Pharmakogenetik in der Praxis: Eine Einführung

„Wirkt das Medikament bei meinem Patienten/meiner Patientin wie vorgesehen?“ ist eine der zentralen Fragen im Praxisalltag. Tatsächlich gibt es eine Einschätzung nach der „der absolute Großteil der verfügbaren Medikamente, über 90 Prozent, nur bei 30-50 Prozent der Personen wie gewünscht wirkt“.[1] Eine Vielzahl von Faktoren sind für die Arzneimittelwirkung relevant, darunter beispielsweise Patientencharakteristika (u.a. Alter, Geschlecht, Gewicht), Arznei- und Lebensmittelinteraktionen, Komorbiditäten und nicht zuletzt genetische Faktoren. Mit eben diesen beschäftigt sich die Pharmakogenetik. Dabei können genetische Unterschiede Einfluss auf die die Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und das Risiko für Hypersensitivitätsreaktionen nehmen.

Nomenklatur in der Pharmakogenetik

Variationen in Genen, die pharmakologisch relevante Faktoren kodieren (Pharmakogene), resultieren häufig aus SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms), bei denen es in der DNA zum Austausch einzelner Nukleotide kommt. Aus diesen Polymorphismen ergibt sich i.d.R. kein unmittelbarer Krankheitswert, aber sie können mit einer gesteigerten bzw. reduzierten Aktivität einhergehen. Bei der Angabe eines Nukleotidaustauschs (z.B. SLCO1B1 521T>C) wird zunächst die Positionsnummer (in der Referenzsequenz) des ausgetauschten Nukleotids angegeben. Es folgen das Originalnukleotid und schließlich das ausgetauschte Nukleotid. I.d.R. wird auch eine sogenannte rs-Nummer angeben. Damit lassen sich die Eigenschaften eines SNP in Datenbanken suchen. Bei der Nomenklatur verschiedener Allelvarianten kennzeichnet ein „*1“ das Wildtyp-Allel mit normaler Enzymaktivität. Der individuelle Genotyp (z.B. *1/*2) kann mit definierten Phänotypen assoziiert sein. So lassen sich die Phänotypen bei vielen Enzymen des Medikamentenstoffwechsels einteilen in: defiziente, intermediäre, normale und ultraschnelle Metabolisierer (auf Englisch poor, intermediate, extensive, ultra rapid metabolizer).[2,3]

Pharmakogene mit Einfluss auf die Pharmakokinetik

Die Pharmakokinetik umfasst die unter dem Akronym ADME zusammengefassten Prozesse Absorption, Distribution, Metabolismus und Exkretion. Aus pharmakogenetischer Sicht sind dabei Verteilung und Verstoffwechslung von besonderer klinischer Relevanz.

Tabelle 1: Ausgewählte Beispiele von Pharmakogenen, die die Pharmakokinetik beeinflussen

Absorption
   
Distribution

  OAT1B1 (Organo-Anion-Transporter Polypeptid 1B1)

Metabolismus

Phase I

Cytochrom P450 System:

  • CYP2C9
  • CYP2C19
  • CYP2D6

DPD (Dihydropyrimidin-Dehydrogenase)

Phase II TPMT (Thiopurin-S-Methyltransferase)
UGT1A1 (UDP-Glucuronyltransferase 1A1)
Exkretion    

Distribution

Eine zentrale Rolle bei der Distribution kommt Transportproteinen zu, sie bringen zum einen Medikament-Moleküle an ihr Ziel, zum anderen transportieren sie Wirkstoffe bzw. deren Metabolite aus Zellen. Genetische Varianten können veränderte Transportraten zur Folge haben. So sind Statine für den Transport in die Hepatozyten abhängig von dem Transportprotein Organo-Anion-Transporter Polypeptid 1B1 (OAT1B1). Der 521T>C Polymorphismus des SLCO1B1-Gens (das für OAT1B1 kodiert) resultiert in einer verringerten Transport-Aktivität und damit in einem erhöhten Plasmaspiegel. Dies steigert wiederum das Nebenwirkungsrisiko (v.a. Myalgie und Myopathie), dies gilt insbesondere für den Wirkstoff Simvastatin. Bei Heterozygotie für SLCO1B1 521T>C kann die Simvastatin-Dosis reduziert werden, bei homozygotem Status sollte ggf. auf andere Statine ausgewichen werden.[2]

Metabolismus

Der Abbau schwer wasserlöslicher Stoffe (zu denen viele Medikamente zählen) verläuft in zwei Phasen. In Phase I werden die Stoffe durch Oxidation, Reduktion, Hydrolyse oder Hydratation chemisch so verändert, dass sie eine polare Gruppe tragen. An dieser können Phase II Enzyme (i.d.R. Transferasen) ansetzen, um daran körpereigene Verbindungen zu koppeln (z.B. Glucuronsäure). Dies ist Voraussetzung für die Ausscheidung über Nieren oder Galle.[4]

Metabolismus Phase I

Die Hauptrolle in Phase I spielen Vertreter des Cytochrom-P450-Systems, das beim Menschen 57 Enzyme umfasst. Gerade einmal acht davon sind am Abbau der meisten Medikamente beteiligt. Mit der Ausnahme von CYP3A4 metabolisieren diese keine wichtigen körpereigenen Substanzen und zeigen mangels Evolutionsdruck eine hohe genetische Variabilität.[5]

Ein Beispiel ist das Cytochrom-P450-Enzym CYP2C19. Zwei klinisch bedeutsame Allele, *2 und *3 kommen in Europa mit einer Allelfrequenz von 15% bzw. <1% vor.[6] Sie gehen mit einer reduzierten Aktivität einher und können die Pharmakokinetik über unterschiedliche Mechanismen beeinflussen.

  • Clopidogrel, ein Thrombozytenaggregationshemmer, ist ein Prodrug, d.h. der eigentlich aktive Wirkstoff wird erst durch die Verstoffwechslung im Körper gebildet – in diesem Fall von CYP2C19. Ist das Enzym nicht aktiv genug, kann nicht ausreichend Wirkstoff entstehen. Eine pharmakogenetische Untersuchung liefert daher eine Vorhersage über die voraussichtliche Wirksamkeit des Medikaments.[2]
  • Mavacamten, das 2023 in der EU zugelassen wurde, ist bei der hypertrophen obstruktiven Kardiomyopathie indiziert. CYP2C19 kommt eine bedeutende Rolle im Abbau dieses Wirkstoffs zu. Bei verlangsamten Abbau von Mavacamten steigt das Risiko für eine systolische Dysfunktion. Um die individuell richtige Dosierung zu finden, muss nach Herstellerangaben vor einer Behandlung der Allelstatus bestimmt werden.

Das Enzym Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD), kodiert durch das DPYD-Gen, ist im Katabolismus von Uracil und Thymidin beteiligt und kein primäres Enzym des Medikamentenstoffwechsels. Im Metabolismus der Krebsmedikamente 5-Fluorouracil und dessen Vorläufermolekülen (Capecitabin und Tegafur) fungiert DPD jedoch als Phase I Enzym. Bei reduzierter DPD-Aktivität erhöht sich das Risiko für teils lebensbedrohliche Nebenwirkungen um das 4-fache. Die Testung auf Polymorphismen im DPYD-Gen ist seit 2020 vorgeschrieben, um heterozygote Träger zu identifizieren, ihr Anteil liegt in Europa bei ca. 3-5%.[2,7,8]

Metabolismus Phase II

Irinotecan wird bei metastasiertem Darmkrebs eingesetzt. Biologisch wirksam ist sein Metabolit SN-38. Der weitere Abbau durch UDP-Glucuronosyltransferase 1 Polypeptid A1 (UGT1A1) ist wichtig, damit es nicht zu einer SN-38 Akkumulation kommt. Bei reduzierter Enzymaktivität können schwersten Nebenwirkungen auftreten (Diarrhö, Knochenmarksuppression), ein Test wird empfohlen. [2]

6-Thiopurin-Analoga kommen u.a. bei Leukämie zum Einsatz. An ihrem Abbau ist die Thiopurin-S-Methyltransferase (TPMT) beteiligt. In etwa 10% der Bevölkerung zeigen eine eingeschränkte TPMT-Aktivität, bei ca. 0,3% liegt eine vollständige TPMT-Defizienz vor. Diese sollte vor Therapiebeginn ausgeschlossen werden.[2]

Pharmakogene mit Einfluss auf die Pharmakodynamik

Auch darauf, wie gut und stark ein Medikament an seinem Zielort wirkt, können genetische Varianten Einfluss nehmen. Ein Beispiel hierfür sind die Antikoagulanzien Phenprocoumon und Warfarin, deren therapeutisches Ziel die Vitamin K-Reduktase (Vitamin K Reduktasekomplex Subunit 1, VKORC1) ist. Die genetische Untersuchung auf den Polymorphismus VKORC1 1173C>T ist in der klinischen Routine nicht etabliert. Die Dosis-Einstellung wird hier i.d.R. über den INR-Wert (INR, International Normalized Ratio) gesteuert. Bei dem INR handelt es sich um einen standardisierten Wert für die Gerinnungsdauer.[9]

Pharmakogene mit Assoziation zu Hypersensitivitätsreaktionen

Abacavir ist ein Virostatikum, das im Rahmen einer Kombinationstherapie zur HIV-Behandlung eingesetzt wird. Circa 8% der Patienten zeigen jedoch eine schwere und potentiell lebensbedrohliche Überempfindlichkeitsreaktion. Als eine wesentliche Ursache wurde das Vorhandensein des HLA-B *5701-Allels ausgemacht. Eine prospektive Studie konnte nachweisen, dass der Therapie-Ausschluss von Trägern dieses Allels die Abacavir-induzierte Hypersensibilität von 7,8% auf 3,4% senkte.[10] Aufgrund dieser Studienergebnisse darf Abacavir nur nach Ausschluss des HLA-B* 5701-Allels eingesetzt werden.

Tabelle 2: Pharmakogenetisches Portfolio bei Labor Becker

Wirkstoff

Anwendung

Untersuchte Allele / Mutationen

Ziel

EBM-Ziffer

Tamoxifen (Prodrug) Brustkrebs CYP2D6 *3/*4/*5 Vermeidung einer unwirksamen Therapie  
Clopidogrel (Prodrug) Myokardinfarkt CYP2C19 *2/*3 Vermeidung einer unwirksamen Therapie  
Mavacamten hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie CYP2C19 *2/*3 Bestimmung der Initialdosis 32869
Siponimod Multiple Sklerose CYP2C9 *3 Vermeidung schwerer Nebenwirkungen 32866
5-Fluorouracil Krebs

DPYD Exon 14 Skipping-Mutation
DPYD 1236G>A
DPYD
1679T>G
DPYD
2846A>T

Vermeidung erhöhter Toxizität 32867
6-Thiopurin-Analoga u.a. Leukämie TPMT *2/*3A/*3C Vermeidung einer Panzytopenie  
Irinotecan (Prodrug) u.a. Kolonkarzinom UGT1A1 *6/*28 Vermeidung einer Neutropenie 32868
Statine (v.a. Simvastatin) Cholesterinsenkung SLCO1B1 521T>C Vermeidung von Myalgie und Myopathie  
Methotrexat u.a. Krebs MTHFR 677C>T Vermeidung erhöhter Toxizität  
Abacavir HIV HLA-B *5701 Vermeidung einer Hypersensitivitätsreaktion 32932

Referenzen

[1] Pirmohamed M. Pharmacogenomics: current status and future perspectives. Nat Rev Genet 2023;24:350–362.

[2] Jäger S et al. Praxisrelevante pharmakogenetische Diagnostik zur Verbesserung der Arzneimitteltherapie. Dtsch Med Wochenschr 2021;146(01):23-29.

[3] Arnemann J. Mutationsnomenklatur. In: Gressner, A.M., Arndt, T. (eds) Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik 2019. Springer Reference Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg.

[4] Oetzel S. Cytochrome P450 - Enzymfamilie mit zentraler Bedeutung. Pharmazeutische Zeitung 2012; aufgerufen über: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-072012/enzymfamilie-mit-zentraler-bedeutung/, aufgerufen am 06.05.2024

[5] Zhou Y & Lauschke V M. The genetic landscape of major drug metabolizing cytochrome P450 genes—an updated analysis of population-scale sequencing data. Pharmacogenomics J 2022;22:284–293

[6] Koopmans, A.B., Braakman, M.H., Vinkers, D.J. et al. Meta-analysis of probability estimates of worldwide variation of CYP2D6 and CYP2C19. Transl Psychiatry 2021;11:141

[7] Daly A K. Genetic Polymorphisms Affecting Drug Metabolism: Recent Advances and Clinical Aspects. Advances in Pharmacology 2012;63:137-167

[8] DGHO Positionspapier Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) -Testung vor Einsatz von 5-Fluorouracil, Capecitabin und Tegafur 2020. Aufgerufen über: https://www.dgho.de/publikationen/stellungnahmen/gute-aerztliche-praxis/dpd-testung/dpd-positionspapier-2020-konsens_logos_final.pdf/view aufgerufen am: 06.05.2020

[9] AWMF-Leitlinie. Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und Lungenembolie. Version 5.5; Stand: 14.02.2023

[10] Mallal S et al. HLA-B*5701 screening for hypersensitivity to abacavir. N Engl J Med 2008;358(6):568-79.




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